Abholung mit Hindernissen
Wir befinden uns mitten auf der Regenbogenbrücke und sehen den anderen Tieren dabei zu, wie sie gemächlich ihren letzten Weg beschreiten. Alle machen einen friedlichen und entspannten Eindruck. Na ja, fast alle…
In einiger Entfernung sieht man einen mittelgroßen braunen Hund, der die gesamte Breite der Regenbogenbrücke für sich alleine einnimmt und lautstark flucht.
Grummel „Das ist doch wohl nicht wahr. Zack, kriegst du einen Pieks und wachst hier wieder auf und dann musst du noch quer durch die Gegend latschen… Ich würde ja sagen, dass meine Pfoten brennen… aber erstaunlicherweise geht es denen gut.“
Lou bleibt mitten auf der Brücke stehen und blickt an sich herunter, sehr zum Unmut der nachfolgenden Tiere, die jetzt einen unfreiwilligen Bogen um sie laufen müssen. „Um ehrlich zu sein, merke ich überhaupt nichts mehr. Hm… seltsam. Aber es scheint noch alles an mir dran zu sein.“ Langsam dreht sie den Kopf nach hinten, um ihren Hintern zu inspizieren. „Uff… Rute ist noch da… Also gut, es nutzt ja alles nichts, laufen wir mal weiter.“ Kaum gesagt, setzt sich der Pointer-Mix wieder in Bewegung. Allerdings wird Lou mit jedem Schritt ein bisschen schneller. Und noch schneller. Schließlich wechselt Lou in einen leichten Trab und sie fängt an, breit zu grinsen.
„Ich kann laufen! Ganz ohne Schmerzen!“
„Super, jetzt musst du nur noch lernen, geradeaus zu laufen, du Schlachtschiff!“ tönt es von hinten.
Schlagartig bleibt Lou stehen und dreht sich nach allen Seiten um. „Wer war das?“ fragt sie entrüstet. Noch nie hat sich jemand getraut, in einem solchen Ton mit ihr zu sprechen. Doch niemand gibt sich zu erkennen, alle scheinen nur zu grinsen.
„Frechheit, so spricht man nicht mit einer Dame!“ blökt Lou schließlich und setzt ihren Weg unbeirrt fort. In einiger Entfernung kann sie das große goldene Eingangstor zum Regenbogenland erkennen.
„Na endlich, gleich bin ich da…“ murmelt sie mehr zu sich selbst als zu sonst jemandem und fixiert mit ihrem Blick das offene Tor.
Etliche Minuten später bleibt Lou unmittelbar vor dem Durchgang stehen und setzt sich kurz auf ihren Hintern. „Wow… beeindruckend…“ entfährt es ihr. Sichtlich angetan vom Eingangstor setzt sie sich langsam wieder in Bewegung, durchschreitet den großen Torbogen und bleibt auf dem großen Vorplatz stehen, nur um sich nach allen Richtungen umzudrehen.
Es war wie immer: Ein geschäftiges Treiben vieler Tiere, die kreuz und quer durch die Gegend liefen. Direkt hinter dem Eingang zum Regenbogenland waren alle wichtigen Einrichtungen des Regenbogenlandes zentral gelegen: Die Verwaltung, die Anmeldung und Rezeption, die Verpflegungsstation, der Kindergarten, die Schule und vieles mehr. Auch das Kontaktzentrum, in dem verstorbene Tiere einige Wochen nach ihrer Ankunft einen Blick in ihr altes Zuhause werfen konnten, wenn sie es denn wollten.
Das alles war für Lou zu viel. Sie war etwas überfordert und sah ziemlich beeindruckt aus. Wie würde es jetzt für sie weiter gehen? Würde man sie abholen kommen? Oder müsste sie jetzt alles im Alleingang herausfinden?
„Herzlich Willkommen im Regenbogenland, Lou! Ich freue mich, dich kennen zu lernen.“ hörte Lou und drehte sich auf dem Absatz herum. Eine Dogge stand direkt hinter Lou und blickte freundlich und gelassen zu ihr herunter. „Ui, du bist aber groß… ähm, Entschuldigung, etwas Blöderes konnte mir jetzt auch nicht einfallen.“ stammelte Lou, sichtlich beeindruckt von der Größe der Dogge. „Hihi, kein Problem. Ich bin Floh und helfe hier bei den Neuankömmlingen, bis deine Leute dich abholen kommen. Komm mal mit, wir gehen dem Trubel hier ein wenig aus dem Weg.“ Floh drehte sich herum und ging in Richtung eines Brunnens, neben dem eine große Wiese mit vielen Liegeflächen angelegt war.
„Schau mal, hier kannst du dich hinlegen und ganz entspannt warten. Deine Leute werden automatisch benachrichtigt. Es kann aber ein bisschen dauern, bis die kommen, heute ist wieder ziemlich viel los.“ Floh drehte sich in Richtung Lou, die ihn breit angrinste. „Ähm, sorry, aber ich bin bei deinem Namen hängen geblieben. Floh passt ja irgendwie nicht so ganz, hihihi.“ Auch Floh musste lachen. „Ich weiß, mein Frauchen wollte lustig sein. Hat sie wohl geschafft.“ Lou legte sich auf den ersten freien Liegeplatz und machte es sich gemütlich. Sie bemerkte, dass zwischen den Plätzen kleine Dackel umherliefen, die ein Tablett auf dem Rücken spazieren trugen, auf denen Getränke standen. Floh bemerkte das Fragezeichen über Lous Kopf. „Ja, du kannst dir einfach ein Getränk bringen lassen. Alles ‚All Inclusive‘, hehehehe. Sodele, ich muss dann mal weiter, bleib einfach hier liegen, bald geht es weiter.“
Mit diesen Worten drehte Floh sich um und ging zum nächsten Neuankömmling. Lou hatte sich zwischenzeitlich ein Getränk bringen lassen und sie sog an einem langen Strohhalm. „Lecker!“ entfuhr es ihr und sie sog kräftiger. Es schmeckte süß, aber sie kannte den Geschmack nicht wirklich. So etwas hatte sie noch nie getrunken. Kurze Zeit später hatte Lou ihr Getränk geleert, drehte sich auf die Seite, streckte sich kurz und schloss für ein kurzes Nickerchen die Augen.
Etwas weiter entfernt im Regenbogenland, genauer gesagt auf Wolke 4711, liegt Chris mit seiner Susie im Wohnbereich entspannt auf der Couch und hält ein entspanntes Nickerchen, als er plötzlich schlagartig von einem lauten Goooooong geweckt wird. „Was ist denn hier los…. Wer macht denn so einen Krach?“ Gääääääääääähn. Chris reibt sich mit den Pfoten die Äuglein und stellt sich auf die Couch. Susie schaut verwundert auf den großen Bildschirm, der an der gegenüberliegenden Seite an der Wand hängt. Der Bildschirm ist aktiviert worden und zeigt ein großes Bild von einem braunen Hund. Der Name „Lou“ ist eingeblendet und die Aufforderung, diesen doch bitte im Eingangsbereich des Regenbogenlandes abzuholen.
„Och Scheiße…“ entfährt es Chris. „Heute kommt ja Lou an, das hatte ich total vergessen. Ach, das hatte Günni uns doch noch mitgeteilt, nicht wahr?“, fragt Susie nach. „Ja, genau… Wie konnte ich das nur vergessen?“. Chris beeilt sich und hüpft kurz ins Badezimmer, um sich hübsch zu machen. „Soll ich dich begleiten, Flopsi?“, fragt Susie ihren Mann, der jedoch kopfschüttelnd Richtung Tür eilt. „Das ist zwar lieb gemeint, aber die Kids kommen gleich. Ich denke, es wäre besser, wenn du hier bist, wenn die Horde angetrampelt kommt. Bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verlässt Chris das Häuschen, wirft Susie noch eine Kusspfote zu und marschiert Richtung Hauptwolke und Eingangsbereich.
Wenn es Neuankömmlinge gibt, schaut die Verwaltung immer automatisch nach, wer eventuell im Regenbogenland die anfängliche Betreuung übernehmen könnte. Zwar haben sich Chris und Lou nie persönlich kennen gelernt, aber Chris hatte sich als zentraler Ansprechpartner registrieren lassen, sobald ein Schlossbewohner ins Regenbogenland umziehen muss. Also wird er immer verständigt, sobald es soweit ist.
Lou zuckte kurz zusammen, als ein lautes Schnarchen sie aus ihrem Nickerchen riss. Sie öffnete die Augen und blinzelte in die gleißende Sonne. War sie wirklich so schnell eingeschlafen? Sie schüttelte sich kurz und merkte, dass ihr Durst wieder da war. Ein kleiner Dackel mit einem Tablett auf dem Rücken trottete gerade vorbei. „Entschuldigung“, sagte Lou, „könnte ich bitte noch so ein leckeres Getränk haben?“ Der Dackel nickte eifrig und balancierte geschickt ein weiteres Glas zu ihr. Lou nahm einen kräftigen Schluck. Ja, es schmeckte immer noch fantastisch!
Plötzlich spürte sie eine vertraute Präsenz. Ein Geruch, den sie noch nie bewusst wahrgenommen, aber instinktiv mit dem Ort verbunden hatte, den sie einst ihr Zuhause nannte. Es war der Geruch von Vertrautheit, von den Menschen und Tieren, die zum Schloss gehörten, in dem sie gelebt hatte. Ein warmer, erdiger Geruch, gemischt mit einem Hauch von etwas Süßem – wie frischer Wind nach einem Sommerregen. Lou hob den Kopf und sah sich um. Niemand war zu sehen. Nur die vielen anderen Tiere, die entspannt auf den Liegeflächen dösten oder sich unterhielten. Doch der Geruch wurde stärker.
Sie stand auf und schnüffelte in der Luft. Da war es wieder! Und noch deutlicher.
„Lou?“ Eine Stimme rief ihren Namen. Lou drehte sich um und sah ihn. Er stand da, etwas kleiner als sie, sein schwarzes Fell glänzte im Sonnenlicht. Es war Chris! Auch wenn sie sich nie persönlich begegnet waren, erkannte Lou ihn sofort vom Geruch her – den Geruch des Schlosses, der nun mit Chris vor ihr in Verbindung gebracht wurde. Lou vergaß alles um sich herum und stürmte los. Sie rannte über die Wiese, wich anderen Tieren aus, die überrascht zur Seite sprangen. Ihre Pfoten trugen sie mit einer Leichtigkeit, die sie nie zuvor gekannt hatte.
Chris wich etwas zurück, als Lou mit voller Wucht auf ihn zustürmte. Er wurde fast umgeworfen, fing sich aber im letzten Moment. Lou vergrub ihr Gesicht in seinem weichen Fell. Tränen stiegen ihr in die Augen, obwohl sie nicht wusste, warum. Es war einfach ein Gefühl von unendlicher Freude und Erleichterung, endlich jemanden aus ihrem alten Leben zu begegnen.
„Ich hab dich so vermisst, auch wenn wir uns nie wirklich kennengelernt haben, alter Freund!“, murmelte Lou, ihre Stimme belegt.
Chris lachte. „Ich dich auch, kleine Zicke. Du hast ja wieder einiges durcheinandergebracht, oder?“ Er sah zu ihr hoch mit einem liebevollen Blick. „Du hast dich ja kaum verändert. Immer noch so stürmisch.“
Lou grinste. „Manchmal muss man eben Krawall machen, damit die Leute einen nicht vergessen.“
„Okay, gehen wir erstmal zurück zu meiner Wolke, die administrativen Dinge regeln wir morgen. Heute ist hier viel zu viel los. Heute bleibst du bei Susie und mir und morgen besorgen wir dir eine eigene Wolke.“ Lou nickte stumm.
Chris führte Lou vom geschäftigen Eingangsbereich weg, vorbei an den Dackeln mit ihren Tabletts und den dösenden Tieren. Sie gingen einen kleinen, gewundenen Pfad entlang, der von leuchtenden Blumen gesäumt war. Die Luft war erfüllt vom leisen Summen der Bienen und dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel.
Schließlich erreichten beide Wolke 4711. Kaum angekommen, stürmte auch schon Susie aus dem Häuschen, gefolgt von einer Gruppe quirliger Junghunde. Lou war überglücklich. Sie war nicht allein. Sie war zu Hause. Und dieses Zuhause war noch schöner, als sie es sich je hätte vorstellen können. Hier gab es keine Schmerzen, keine Sorgen, nur Wärme, Liebe und unendlich viel Platz zum Herumtoben.
Sie verbrachte den Rest des Tages damit, das Häuschen von Chris und Susie und die Umgebung zu erkunden. Sie spielte mit dem Nachwuchs, tollte mit Chris und Susie über die Wolke und genoss das Gefühl der Freiheit und Geborgenheit. Am Abend, als die goldenen Tore des Regenbogenlandes in sanftes Licht getaucht waren, kuschelte sich Lou an Chris und Susie auf die Couch. Sie schliefen alle eng beieinander, und Lou wusste, dass sie endlich angekommen war. Hier, im Regenbogenland, würde sie für immer glücklich sein.